Mann und Frau
oder die Geschichte einer Liebe
Es geht um Liebe, also um Zärtlichkeit und Selbstaufopferung, um die Kraft der ewigen Liebe, die zwei zusammengehörende Seelen unter verschiedenen Namen und Fleischwerdungen zueinander in allen Zeiten immer wieder finden lässt. Es geht um Liebe im altslawischen Sinne.
Es ist ein Märchen von dem mutigen Weles und seiner Ewigen Gemahlin Jaginia, von einem seelisch wunderschönen Mann und einer seelisch wunderschönen Frau, von Hass, Angst, edlem Geist und Liebe.
Setzt euch am Feuer oder im Sessel und hört die gekürzte Wiedergabe eines Märchens des russischen Nordens "Darüber, was so beginnt und anders endet", aus dem Buch: Боги и Люди (Götter und Menschen).
JAGINIA
Seltsam war es. Sie erlernte alles, konnte zwischen den Welten wandern, wie andere aus dem Wohnzimmer ins Schlafzimmer gehen, nur ihrem Schicksal konnte sie nicht entfliehen. Ihr Herz war unbefleckt und sie konnte nichts Böses in anderen sehen. Die Schönheit wurde ihr allem Anschein nach nicht zum Glück, sondern zum Unglück zuteil.
WELES
Er sah eine Jungfrau an ihm vorbei am Himmel in einem Körbchen huschen, das Haar bodenlang. Ihr Gesicht erblickte er nicht, nur die Beinchen in goldenen Stiefelchen. Aber er wurde neugierig: Wer ist sie? Warum weiß ich nichts über sie? Er versuchte, sie einzuholen, sein Pferd wurde müde, einen ganzen Tag irrte es ohne Ziel auf den Feldern herum. Doch Weles gab nicht auf. Wer ist sie denn? Er fing an, andere vorsichtig zu befragen. Sobald er Bescheid wusste, machte er sich auf den Weg zu ihr. Er näherte sich der Jungfrau, die schweigend dastand und den Unbekannten ansah. Er wagte, den Tempel des Gottes ohne die Erlaubnis der Hüter zu betreten! Und Weles stand auch da und schwieg. Alle Worte, die der beredte Weles vorbereitet hatte, um zu schmeicheln, waren ihm aus dem Kopf geflogen.
LIEBE
Und sie schwiegen beide, weil sie verstanden: Geschaffen sind sie füreinander auf ewig und selbst ist Nawia, die Welt, in der die Seelen der Verstorbenen weilen, nicht in der Lage, sie auseinanderzubringen. Und noch erkannten Weles, denn ein weiser Gott ist er, und Jaginia, die die Geheimnisse alter Lehren kannte, dass sie durch viele Prüfungen gehen müssen. Aber diesen Augenblick des Kennenlernens werden sie niemals vergessen. Und sie werden einander immer wieder finden und lieben lernen in zukünftigen Fleischwerdungen.
(Es sei bemerkt: Mit dem Wort "Augenblick" übersetzte ich das Wort "mig". Mig war eine sehr kleine Zeiteinheit in der altslawischen Zeitrechnung. Mig war kleiner als ein Weilchen, und das Wort Zeit, cat, bedeutete einen Zeitabschnitt, eine Stunde. Ein Tag hatte sechzehn statt vierundzwanzig Stunden und vier Tageszeiten je vier Stunden. Die Worte час, čas, cat, sat, bedeuten nicht die Zeit, sondern die Stunde auf Russisch, Weissrussisch, Mazedonisch, Bulgarisch, Serbisch, Kroatisch bis heute. Man sagt: w mig, in einem Mig, das heißt sehr schnell, nach wie vor im Polnischen. Eine Stunde enthielt 144 Weilen, eine Weile 1296 Weilchen, ein Weilchen geteilt durch 72 und das Ergebnis durch 760, ergab einen Mig. Vielleicht war die Zeit, die Jaginias und Weles Seelen im Tempel vereinte, also um einiges kürzer als ein Augenblick?)
Sie standen lange da und schwiegen, und schauten einer dem anderen in die Augen. Als erster besann sich Weles. Er erinnerte sich an die Worte, die er vorbereitet hatte, um Jaginia kennenzulernen, aber er konnte nicht sprechen. Er nahm Jaginia einfach an den Händen, drückte an sich und küsste sie, alle Gefühle mitteilend, die in ihm brodelten und sich wälzten. Und dann führte er Jaginia zu seinem Pferd, setzte sie hin und selbst nahm den Platz hinter ihr. Er drückte sie an seine Brust und konnte hören, wie ihr Herz schlug. Und es schlug wie ein gefangenes Vögelchen herumschlägt. Aber schon bald schlugen ihre Herzen plötzlich in Eintakt. Alle ihre Gefühle überkamen auch das Pferd. Es machte sich auf den Weg und trug die Beiden im gleichmäßigen Trab in die Zukunft, ins Leben, das sich entfalten sollte.
Und Weles wurde schwärzer als die Nacht. Er legte seinen Arm um Jaginias Schulter, drückte an sich, und so, umarmt, führte er sie zu sich in die Gemächer. Die Dienerschaft wies er an, Hochzeitsmahl zu bereiten. Er beruhigte, herzte seine Braut, soweit es ging, und begab sich zur Mutter. Worüber sie sprachen, ahnte Jaginia nur, doch ohne Weles konnte sie sich ihr Leben nicht mehr vorstellen oder sinnen. Sie weinte sich und seufzte in ein Kissen aus, aber sie blieb ihrem Grundsatz treu: Sie unterließ es, in die Zukunft zu schauen. Es wird kommen, was kommen muss, dem Schicksal wirst du nicht entgehen. Wie Mokosch, die Schicksalsgöttin, den Knoten gebunden hat, so wird es geschehen. Bis Weles zurückkam, wurde sie mutiger, wusch sich ab, kämmte, wurde noch schöner.
Weles kam, schaute vorsichtig, erwartete bittere Tränen, Unruhe, alles mögliche, und ihm begegnete die junge Braut mit Lächeln, hellem Blick, ja, klugen Worten. Sagt Jaginia: Wir sind schuldig, Weles, vor Mutter. Wir hätten alles nach dem Brauch tun sollen: um Segen bitten, Heiratsvermittler schicken und meine Mitgift vorbereiten. Und wir gingen wie vor? Wir nahmen uns an den Händen, schauten einander in die Augen und schon waren wir Mann und Frau. Aber was tun, Pferde sind fort, zu spät den Stall zu sperren, nach vergossener Milch vergießt man keine Tränen. Wir werden einander lieben, jeden Tag genießen, als ob er der letzte wäre, und Mutter wird unser Glück sehen, sie wird vergeben, ihr Ärger wird sich in Liebe verwandeln. Schaut Weles auf Jaginia, hört ihre Rede, und versteht, dass er eine Braut, die ihm recht ist, fand: klug und großzügig.
Es verging einige Zeit. Weles kam eines Tages irgendwoher nach Hause zurück. Er eilte durch die Zimmer, machte die Tür zum Schlafzimmer auf: leer da. Er rannte in den Garten: niemand da. Er fing an, Jaginia laut beim Namen zu rufen, raus kam die Mutter. Er fing zu fragen an: Wo ist sie denn, meine Braut? Und Mutter sagt ganz ruhig, dass nachdem Weles verreist war, so ging auch seine Ehefrau aus dem Haus fort. Niemandem sagte sie was, mit keinem Wort. Sie ging einfach fort und Schluss. Weles brüllte wie ein Wildschwein auf, warf sich zu den Ställen, und das Pferd sagt zu ihm: Irgendwas stimmt hier nicht. Es kann nicht sein, dass Jaginia ging, ohne etwas gesagt zu haben. Befrage die Dienerschaft. Weles tat wie geheißen. Doch keiner weiß irgendwas, keiner hat irgendwas gesehen. Offenbar fürchten sie die Herrin mehr als Weles. Nun lief Weles zur Schwester. Seine Schwester leugnete zunächst, wie die anderen auch etwas zu wissen oder gesehen zu haben, aber dann, als sie die Qualen ihres Bruders sah, erzählte sie solch schreckliche Wahrheit.
Nachdem Weles verreist war, wurde Mutter zu Jaginia süßer denn Honig, sanfter denn Seide. Töchterchen nennt sie sie, setzt Leckereien vor, Güte schlechthin, zum Brot schmieren und essen. Und Jaginia, offene Seele, schmiegt sich ebenfalls an sie. Und dann, keine drei Tage vergingen, und die Mutter beauftragt, die Banja, das Badehäuschen, anzuheizen. Banja angeheizt, führt sie uns, mich und Jaginia, in den Dampfraum. Mich saunierte sie fertig, führte in den Vorraum aus, und drohte an, indem sie mir sagte, was geschehen wird, wenn ich nicht gehorche. Ich nicke, habe Angst, ein Wort nur zu sagen.
Aber ich sehe, der Besen, den sie hält, ist nicht aus Birkenzweigen angefertigt, wie der, mit dem sie mich erwärmte, sondern aus Wolfsbast und Geißblatt. Ich deckte meinen Mund mit der Hand zu, mein Gesicht mit einem Tuch ab, um mich nicht zu verraten. Ich höre, Mutter schlägt mit dem Besen und selbst redet irgendwas laut. Nun, sicher, denke ich, sie legt einen Fluch. Aber mich zu bewegen, habe ich Angst. Unsere Mutter kennt ja keinen Spass bei Auseinandersetzungen. Und dann wie Jaginia nicht schreit. Auf einmal wurde sie still. Da sprang ich in den Dampfraum. Ich sehe, Jaginia liegt auf der Bank, ihr Leib himbeerrot, mit giftigen Zweigen ausgepeitscht, ein heißer glühender Stein vom Ofen auf ihrer Brust. Und sie liegt ohne sich zu regen. Und ich wie nicht aufschreie. Und Mutter griff mich am Haar, fuhr mein Gesicht in einen Kübel mit kühlem Wasser. Und sie neigt meinen Kopf tiefer und tiefer. Aus, denke ich, werde ich jetzt Wasser schlucken bis das Ende kommt. Und sie sagt ganz ruhig: Wenn du, hörst, nur einen Mucks von dir zu jemandem gibst, wird das geschehen.
Und sie ließ los. Ich setzte mich auf den Boden, wandte die Augen von Jaginia nicht ab. Mutter ging hinaus, kam schon gekleidet zurück, forderte mich auf, Kleidung anzulegen. Ich ging hinaus. Kaum bin ich angekleidet, kommt ein Mann hinein, ich habe ihn früher bei uns im Hof nicht gesehen. Er trägt eine Holztruhe hinein, hinter ihm ein anderer mit einer Abdeckung. In die Holztruhe legten sie Jaginia, darauf warfen sie die Abdeckung und vernagelten die Teile. Sie hoben die Truhe und trugen sie in den Hof. Und dort steht ein Pferdewagen. Auf den Pferdewagen stellten sie die Truhe und fuhren ab. Ich schleiche mich ihnen hinterher, verstecke mich, nehme einen Weg durch die Gärten. Sie warfen die Holztruhe in den Fluss. Sie fuhr ins Meer. Und selbst setzten sie sich auf den Pferdewagen und fuhren fort. Und es ist schon länger als ein Monat her. Altynka erzählte alles, wie es war, und warf sich zu Boden, schluchzend.
Schnell versammelte Swarog Götter, ließ sie wissen, was Weles erzählte, und bat um Rat. Alle Götter, oder höhere Kräfte, wie ich sie manchmal nenne, denn das Wort Gott gab es im slawischen Sprachraum früher gar nicht, entschieden einstimmig: Man muss sie zuerst finden, dann weitersehen. Sie begaben sich zu Dwina, zu der Nördlichen Dwina, dorthin, wo sie im Meer mündet. Sie besahen den Fluss, fingen an, weiter zu suchen. Mokosch, die Göttin der Schicksale, warf ihr Netz aus, Weißlachs breitete es aus, sie warf es nochmal aus. Was im Meer lebte, begann zu helfen.
Und seht, sie stießen auf eine hölzerne Truhe, im Wassergras verhing sie sich und weder ging sie unter, noch fuhr sie weiter. Jaginia liegt darin, als ob sie lebte, sieht sie aus. Aber sie atmet nicht, ist eiskalt und nach wie vor wunderschön. Weles brach in Tränen aus, sprach, ohne sich seine Worte zu schämen, nahm Jaginia auf den Arm. Er wiegt sie wie ein Kind, bittet, fleht an, zu ihm zurückkehren. Und Chors, auch ein Gott, ohne die Zeit zu verlieren, warf sich schnellstens in den Irij (das Land am Ende der Milchstrasse, am Himmel, auch Irija, raj, wyraj, genannt, also Sternbild Orion?). Vom Wasser des Lebens volles Gefäß dort geschöpft, reicht es an Weles. Und der sieht nur Jaginia, hört nichts, nichts versteht. Perun wie nicht aufschreit ins Weles Ohr: Wache auf! Bruder! Es ist deine Aufgabe sie zu beleben, und zeigt auf das Gefäß. Weles kam zu sich, befeuchtete ein Tuch mit dem Wasser des Lebens, fing an Jaginia zu wischen, ihre Lippen zu befeuchten, das Wasser tropfenweise ihr in den Mund zu geben. Zurück ins Leben kehrt Jaginia nicht.
Alle wandten sich also an Mokosch, an die Göttin der Schicksale. Alle wussten, dass Weles eine Stieftochter von Mokosch geheiratet hat. Sie blickten fragend: Was ist zu tun? Mokosch wurde traurig, antwortete dennoch: Das Gesetz ist für alle gleich, Leben für Leben. Sie war bereits in Nawia, in der Welt, wo die Seelen der Verstorbenen weilen. Jemand von euch muss freiwillig in die Nawia übergehen, dann wird ihre Seele in den Körper zurückkehren können. Alle hielten den Atmen an. Aber Weles überlegte kein Weilchen lang: Ich gehe. Sie lebte nur so kurz, und kurz nur war sie glücklich. Und als er das sagte, fühlte er, wie ihr Leib warm wird, und ihre Lippen sich rosig färben. Und sehe, Jaginia öffnete die Augen und ihre Blicke trafen sich, wie schon mal. Und Weles fühlte wie sein Leib und seine Arme, die Jaginia hielten, kühl werden, und durchsichtiger und durchsichtiger. Vorsichtig ließ er Jaginia herunter, küsste sie, flüsterte zu: Warte auf mich, ich werde kommen. Und er löste sich in der Luft auf, verschwand wie Morgentau, in die Erde einsinkend.
Weles ging in die Nawia über, aber die Sehnsucht verschwand aus seinem Herzen nicht. Er wanderte auf dunklen Wegen, auf traurigen Pfaden, weit von der Erde und von Jawia, vom Diesseits, von der sichtbaren Welt entfernt. Lange irrte er so in Nawia umher, selbst verloren, bis Kryschen, ein weiser Gott, und Mokosch, die Göttin der Schicksale, entschieden, dass er von anderen Eltern in einem anderen Körper wiedergeboren werden soll.
Swarog schaute auf Jaginia: Frage, Tochter. Sie flüsterte leise: Werden wir uns mit Weles je wiedersehen? Und sie sank ihren Kopf, da sie die Antwort fürchtete. Ihr werdet euch wiedersehen, nur eure Antlitze werden andere sein. Aber ihr werdet einander jedes Mal erkennen, lange und glücklich leben, bis der Zeitpunkt gekommen sein wird, in die Nawia zu gehen, und später werdet ihr immer wieder geboren werden und einander lieben unter neuen Gesichtern. Jaginia atmete erleichtert und glücklich auf: Ich werde warten. Er wird kommen. So geschah es auch. In anderen Körpern, unter anderen Gesichtern, in anderen Kreisen des Lebens war sie Asowuschka und Asja Sternchen, und Lina Heiligengleich, und Sida und Wila die Weise. Und in allen Leben, in denen es so sein sollte, fanden sie sich und liebten.
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