Bevor sie starb, träumte ich kein einziges Mal jüdisch. Jüdisch träume ich oft, seit sie nicht mehr lebt. Der erste Traum war der vom Friedhof, aber nicht für Menschen, sondern für Buchstaben. Die Aufzeichnung wurde gestohlen. Ich erinnere mich an den Traum kaum. Das Licht war grau, die Macewen waren aus einem grauen, einfachen Stein. Sie waren einander sehr ähnlich. Alle fast gleich. Die Buchstaben lösten sich von den Steinen ab. Sie sahen aus, als ob sie aus dünnen Fäden geformt wären. Sie bewegten sich in einem langsamen Tanz wie im Schlaf auf unserem Ackerfeld. Dann erblickten sie mich. Zuallererst der Alef. Sie drangen in meinen Körper ein. Alle. Ein Teil meines Körpers machte mit, ein anderer wehrte sich dagegen. Ich wurde wach und musste erbrechen. Am liebsten hätte ich meinen Körper in Teile gesprengt, um mich, mein wahres Ich, etwas in mir zu befreien. Dies gelang nicht. Es ging mir dennoch besser.
Irgendwann eine Weile später, ich weiß nicht genau wann, vielleicht dauerte die Weile ein Jahr, begann ich die Buchstaben zu lernen. Es war, als hätte ich einen metallenen Maulkorb an. Ich konnte die Laute nicht sprechen. Der Alef, mit dem alles begann, blieb vor den Lippen im Mund stecken. Der Kopf platzte fast. Aus den Augen quollen Tränen. Zuerst mussten die Metalldrähte brechen. Mein Mund war, fühlte sich an, wie das Maul eines Hundes, der die Freiheit nicht hat, zu bellen. Es dauerte ziemlich lange. Ich malte das Innere von den Buchstaben bunt aus. Ich ritzte sie ein. Sie gewannen an Kraft, stärker wurde auch meine Hand. Sie befreiten sich dann. Ich sang sie fast. Das Innere der Buchstaben füllte ich mit zarten Zeichnungen aus. Schwarz auf weiß nun. Erst viel später habe ich erfahren, dass sich all die Buchstaben in den Davidstern einschreiben lassen, somit Teile einer universellen Urform in meinem Traum waren.
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