So war es damals
Jemand, der die Fähigkeit offenbar besitzt, zu mir wie aus dem Jenseits zu sprechen, hat geschrieben, sie habe eine Schuld, also Verantwortung für eine große Unrichtigkeit anderer auf sich genommen. Ich habe während der Bestattung gedacht, es sei meine Schuld. Es war vor achtzehn Jahren. Ich erzählte es anderen Menschen, doch mir sagte es niemand. Nun ist es, als hätte mich jemand an die Wand gedrückt, durchschaut, und zugleich in meinem Mut darüber zu sprechen bestärkt.

Das Sterbedatum meiner Schwester ist unbekannt. Es umfasst dreiundachtzig oder, wie ich denke, achtundsechzig Tage, weswegen ich so denke, sage ich später. Während sie bereits nicht mehr lebte, und ich es noch nicht wusste, nahm ich ein Passfoto von ihr in die Hand, legte es auf einen dunkelblauen Hintergrund, auf dem eine goldene Wolke oder ein wurzelloser Baum zu sehen war, darauf ein Glas. Ich rahmte das Ganze ein. Sie lächelte mich vom Foto aus an. Auf einmal ging ein Gedanke durch meinen Kopf, ich machte ein Bild für sie, als wäre sie bereits tot. Nachdem das Bild fertig war, ging ich zum Tisch, zeichnete auf einem schwarzen Stück Tonpapier einen silbernen Davidstern, auf meinem Schreibtisch: lateinische Schrift und Altgriechisch. Sie war bereits tot. Mehrere Wochen später kamen zwei Polizisten, schlugen gegen die Tür und sagten es mir. 

In der Zeit um ihre Bestattung lebte ich wie in einer Welt, die es nicht gab, und die dennoch eine reelle war: Ich lernte in einer Stadt im Pädagogischen Institut. Es war wie eine andere Zeit. Ich kannte die Stadt ein wenig und wusste, dass es kein Pädagogisches Institut dort gab, sonst hätte ich davon gehört. Es kann nicht sein, dass jemand je in der Stadt in einem Pädagogischen Institut gelernt hat, dachte ich. Ich fuhr dorthin und stellte fest, dass es ein Institut für Völkerpädagogik Anfang Dreißiger Jahre in der Tat dort gegeben hatte. Es existierte ein Paar Jahre lang, machte Kompromisse, wurde dennoch geschlossen. Ich lernte dort einen jungen Mann kennen, der in einer Besuchergruppe an einer Veranstaltung teilnahm. Als ich bereits schwanger war, sagte mir meine Tante, die jüngere Schwester meiner verstorbenen Mutter war und sich um mich kümmerte, man wisse nicht, wie das Kind aussehen wird. Als die Freunde des Mannes vor die Tür des Hauses meiner Tante und meines Onkels kamen, um mich zu sprechen, leugnete ich, ihn je gekannt zu haben. "Das hast du gut gemacht", sagte meine Tante. Die Abtreibung fand statt. Der Mann, der der Vater des Kindes war, ging drei Jahre später in Flammen auf, weil die Einrichtung, in der er sich befand, brannte.

Zur Zeit der Bestattung meiner Schwester wohnte ich bei einer Freundin und ihrem Ehemann. Eines Nachmittags lag ich im Wohnzimmer auf dem Sofa. Mein Blick fiel auf ein Möbelstück auf der Terrasse. Die Glastür stand offen. Es war ein Armlehnstuhl aus Rattan. Ich erinnerte mich an die Rattanmöbel in ihrem Haus zu der Zeit, als sie sich nicht meine Freundin, sondern meine Tante nannte. Jetzt waren die Möbel meiner Freundin neu, nur der Rattanstuhl, die Art, wie er geflochten war, ein Ausschnitt davon, erinnerte mich an ihre Möbel von damals. Auch jetzt pflegte sie zu sagen: "Das hast du gut gemacht" wie damals, obwohl sie nun in fast demselben Jahr wie ich geboren wurde, ein halbes Jahr jünger war als ich.

Meine Freundin heiratete, während die Leiche meiner Schwester bereits länger an der Tür eines Badezimmers in der Schlinge hing. Ich war bei ihrer Hochzeit dabei. Getanzt habe ich kaum. Wenige Wochen später betraten wir zu dritt, meine Freundin, ihr Mann und ich das Zimmer meiner Schwester, um es zu räumen. Es war ein Herbst wie vor Jahrzehnten, als ich mich vom Vater meines Kindes trennte. Ihr Ehemann zeigte ihr das Bild eines Mannes, der ein Kind in seinem Arm hielt. Das Bild war über dem Schreibtisch meiner Schwester befestigt. Meine Freundin sagte wie aus der Stille, in der wir uns befanden, heraus: "Ja ja", als ob sie sagen wollte: Ich sehe es schon, "auch das hier'', sie zeigte auf das Bild eines Schlundes, das über dem Bett hing, und fügte hinzu: "Auch an der Zimmertür schon". Sie meinte das Plakat Pippi Langstrumpf mit einem Äffchen, glaube ich, auf dem Kopf, ein Sinnbild wohl für das Ich. Das Plakat und das Foto über dem Bett waren farbig. Das schwarzweisse Foto des Mannes mit dem Kind war das einzige Bild, das über ihrem Schreibtisch zu sehen war. Die Bilder im Zimmer meiner Schwester schienen die beiden aus einem anderen Zusammenhang im Leben meiner Freundin zu kennen. Auf dem Boden im Bad war ein weißer Laken zu sehen, und Blut.

Nachdem meine Schwester nun verstorben war, und ich all den Erinnerungen gewahr wurde, wie es dazu kam, dass sie einst nicht geboren, sondern entfernt worden war, fiel mir ein Text in die Hände. Manche sagen: Zufälle gibt es nicht. Jemand schrieb literarisch, den Ehemann, den Vater des Kindes, und das Kind umzubringen, sei das Gleiche, in den tiefen seelischen Vorgängen vielleicht, dachte ich, das Kind und das Glied seien das Gleiche irgendwie. Ich hatte sie beide umgebracht. Das wusste ich bereits vor der Zeit, in der mir der Text in die Hände fiel.

Nicht viel später war ich eines Tages dabei, einige Sachen meiner Schwester auf einem Grillplatz am Rande eines Naturschutzgebietes zu verbrennen. Nah an dem Grillplatz im Freien gab es eine Einrichtung für Kinder. Während die Sachen brannten, spielte ein kleiner Junge dort in Anwesenheit einer älteren Frau, seiner Großmutter, offenbar. Der Junge rief aus: "Die Frau verbrennt ihren Mann!" Ich wusste, das war wahr. Die Frau sagte: "Komm, erzähle keinen Unsinn". Sie nahm ihn an der Hand. Sie gingen. Ich blieb am Grillplatz alleine. 


In den Aufzeichnungen meiner Schwester las ich ein halbes Jahr später, sie habe geträumt, dass ich eine Tochter hätte: "Das Mädchen hat schwarzes Haar". Ich bin heute und war damals blond. Als meine Schwester geboren wurde, war sie kleiner als meine Puppe und hatte schwarze Augen. Ich war bereits sechs Jahre lang auf der Welt. Ich schaute sie an und wunderte mich, dass es so etwas gibt: ein Mensch und kleiner als eine Puppe. Und die Augen: ganz schwarz. Man konnte die Iris und die Pupille voneinander nicht unterscheiden. "Sie ist Jüdin", sagte meine Mutter. "Warum Jüdin?", fragte ich. "Weil sie nicht getauft ist, wenn sie getauft wird, dann nicht mehr Jüdin".


Später wurde meine Schwester größer als ich und ihre Augen hell. Später habe ich andere sprechen hören, dass es Umstände gibt, wo man nicht aufhören kann Jude zu sein, und auch dass das Wort Jude viele Bedeutungen hat. Mein ermordetes Kind wurde an einem Jahrestag der Einführung der Rassengesetze wiedergeboren. Uns hatte nun ein und dieselbe Mutter geboren, ein und derselbe Vater gezeugt. Sie war meine Schwester. Ich hatte nicht mehr die Macht, sie umzubringen. Die Zeiten waren anders. Sie konnte erwachsen werden und das Bild des Mannes mit dem Kind in seinem Arm über ihrem Schreibtisch aufhängen.


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