Ein Haus und viele Räume
 
Vielleicht gibt es auch unter Lesern wohlwollende Menschen, die fragen, wie es einem so geht, wenn man obdachlos zwischen zwei Welten auf der Straße steht, und mal von der einen, mal von der anderen Seite via Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten Schläge erhält. Nicht wenige suchten mich aus der Stadt zu vertreiben, denn, um eine jüdische Galerie zu gründen, fehlte mir das Recht meiner Abstammung wegen, wie die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde und auch manche jüdische und nichtjüdische andere zu behaupten, danach zu handeln, wagten. Ich fühlte mich manchmal ausgerechnet in dieser Stadt, wo meine Schwester starb, fast wie dort, wo ich herkomme und wie im Elternhaus.


Eine meiner Schlafstätten, ich hatte insgesamt vier, war unter Laubbäumen. Ich lag dort und dachte daran, dass meine Mutter als kleines Kind mit ihren Eltern und Geschwistern oft im Wald schlief, sobald die Flugzeuge flogen aus Angst vor Bomben. Die Laubbäume erinnerten mich an die zwei Juden, die vor der Erschießung in der Erdkuhle am Wald meiner Großeltern väterlicherseits lebten und vielleicht, wie ich nun, hoch zu den Baumkronen blickten. Ich dachte daran, dass die Familie meiner Mutter während der Vertreibung bei einer Familie in deren Haus lebte, an den Russen und Letten, die sich vor den Juden in der Erdkuhle versteckten und, zumindest was die Stelle dort anbetrifft, überlebten. Vielmehr fühlte ich mich zu Hause tagsüber jedoch in der Stadtmitte. Mitten in der Stadt, auf einem großen Platz, gab es einen geheimen Ort. Was auf dem Ort vor sich ging, wusste außer mir niemand. Der Ort waren meine Ohren.

Ich wurde unweit des Ortes geboren, an dem ein berühmter Mann zur Welt kam. Die Stadt, in der ich mich nun befand, war stolz darauf, seine Werke von ihm geschenkt bekommen zu haben. Ich saß öfter auf einer Bank in der Mitte der Stadt unweit seiner berühmten Werke und hörte ein Lied an. Das Lied muss ich versuchen so wiederzugeben, dass ich den Namen der Stadt nicht verrate, denn in dem Lied wird der Name des Mannes ausdrücklich genannt. Wie kam ich zu dem Lied und wieso es heimisch klang? Der Grund war keineswegs nur der Geburtsort des Mannes.

Während meiner Obdachlosigkeit lag ich eines Tages auf dem Boden der einzigen Wohnung, in der ich mich habe hin und wieder aufhalten dürfen und können. Ich suchte nach etwas unter dem Stichwort Alef. Plötzlich erschien auf dem Bildschirm das Bild des Umschlages einer Schallplatte. Erstaunt erinnerte ich mich daran, dass mein Großonkel, der mit uns lebte, derselbe, der die zwei erschossenen Juden zwecks Überleben in einer Erdkuhle versteckte, die Schallplatte hatte. Die Schallplatte fand ich. Ein Lied aus dieser Platte tönte nun wiederholt in der Mitte der Stadt in meinen Ohren.

Das Haus meiner Eltern war bereits verkauft. Das Lied erzählt davon, dass es eine Welt nicht mehr gebe, von einem Schneiderschwarm, von einer Ziege am Zaun, von einem Schneider dann, der ein Hochzeitskleid schön wie niemand sonst nähen könnte. In einer weiteren Strophe hieß es, dass ein Traum von In-gutem-warmen-Zuhause-Sein im schwarzen Tunnel weit weg verschwand. Es gebe die Tränen nicht mehr, hieß es im Lied, in meinen Augen gab es sie. Es sei an der Zeit, so das Lied, dass ein Wind das Nicht-Gedenken weg wehe, es sei der Sache manchmal wert, mit der Faust gegen den Tisch zu schlagen, schwarze Wahrheit so zu messen, wie der Schneider, der für Frack Masse nahm. Dann soll es Musik geben, und im Tanz mit dem traurigen Schneider vertraut, sich die Welt um uns drehen.

So ein Lied sang die Sängerin nun in meinen Kopfhörern, als seien sie Galerieräume. Sie sang es laut in meinen Ohren. Sie sang es in der Nähe des Rathauses. Sie sang es, so schien es mir, für die Jüdische Gemeinde. Ich hatte keinen Tisch mehr, mein Maßband wurde zwangsgeräumt, mein Mund war wie zugeschnürt. Mir fehlte Kraft, mitzusingen, mir fehlte Kraft, an die beiden Erschossenen nicht zu denken. Sie waren, wie der Mann in dem Lied, von Beruf Schneider. Sie nähten Kleider. All das erinnerte mich an mein Elternhaus in der Stadt. War all das nur privat?

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