Warteschlange

Eines Tages musste ich an das Ende einer Warteschlange zurück, weil ich, so schien es mir, eine Ausländerin war. Mehrere Menschen schickten mich dahin. Sie waren im Unrecht. Ich sprach Deutsch mit Akzent. Der Mann, der die Gruppe gegen mich hetzte, machte Witze zur Abkürzungen wie SS und andere nicht lange davor in einem Café. Zum Schluss sagte er, KZ bedeute: keine Zeitung. Im Café lachten alle darüber, manche unsicher. Ich ging. Der vorletzte Mann in der Schlange, der, seinem Äußeren nach zu urteilen, kein Einheimischer wie ich war, sagte: "Sie waren vor mir". Deutliche Worte wurden nicht gesprochen. Es ist gesetzlich verboten. Der Vorfall erinnerte mich an eine Warteschlange, die es früher, wie mir jemand erzählte, gegeben haben soll. Da mir die Erinnerung keine Ruhe ließ, dachte ich, dass es geschah, weil die einstige Warteschlange meine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, damit ich an statt ihrer spräche, da sie nur zischen kann.

Ein erwachsener, älterer Herr, der ein blondes Kind im Dritten Reich war und kein gelbes Zeichen auf seiner Kleidung aufgenäht tragen musste, erzählte, dass er eines Tages sein Brot auf Zuteilung holen ging. Es fiel ihm auf, dass ein Junge, der genauso wie er Brot holen kam und vor ihm stand, an das Ende der Warteschlange geschickt wurde. Er beobachtete, während er seinen Brotlaib längst in den Händen hielt, dass der Junge jedes Mal, sobald er an die Reihe kam, an das Ende der Warteschlange zurück musste. Zum Schluss brach er seinen Brotlaib in zwei Teile durch und gab einen davon dem Jungen. Uns Nachgeborenen erzählte seine Tante, bei der er nach dem Tod seiner Mutter aufwuchs, dass er, während die Klasse "Heil H." sagte und den rechten Arm waagerecht gestreckt vor sich hielt, lachte nur. Sein Lachen war der Grund dafür, dass er nicht lange später Theater machte, im Klassenschrank. Er gab Laute von sich, klopfte gegen die Schrankwände und Schranktür von innen, da sie von außen abgeschlossen war. Die Klasse lachte nun.

Die Tante wunderte sich, dass er so etwas tat, und fragte sich, wo er das her hatte, da gegen so manche bei ihnen zu Hause nie gesprochen wurde. Die Familie seines Vaters war wohl sogar für so manche. Wir Nachgeborenen sagten, dass er sich nicht wegen seiner Meinung anders verhielt, sondern weil er ein Witzling war. Vielleicht hatte er einen Sinn fürs Theatralische ? Sie erzählte, dass er seinen Brotlaib, der allein ihm nach Zuteilung gehörte, genau in der Mitte durchschnitt. Sie sagte, sie habe ihn gebeten, er solle es nicht tun. Er teilte es dennoch und händigte ihr und seinem Onkel eine der beiden Hälften aus. Er hatte, so meinte sie, einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit als Kind. Wir glaubten ihm, dass sie ihn schlug, weil er nur die Hälfte des Brotlaibes nach Hause gebracht hatte und auch aus manchem anderen Grund. Wir glaubten seiner Tante nicht mehr, die im Voraus angab, dass sie ihn nicht geschlagen hatte.

Er fragte, ein erwachsener, älterer Herr, wieso sie ihn schlug, der Junge hätte doch Hunger gehabt wie er. Er verstand genauer erst später, weshalb er in den Klassenschrank gesteckt wurde, und dass es nicht nur deshalb geschah, weil er zwei Worte nicht sagte und seinen Arm nicht waagerecht gestreckt vor sich hielt. Er lachte bereits nicht mehr. In Tränen brach er erst aus, als er von einer Frau sprach, die unter der Decke eines Speichers in einer Schlinge hing. Sie war jung. Nicht lange bevor dies der Fall war, dass er und andere sie hängen sahen, hatten so manche ihren Freund aus einem damals gerechtfertigten Grund hinausgeführt.

Der Zeitraum, in dem ich glauben durfte, dass diejenigen, die ihn hinausgeführt hatten, nicht mehr lebten, war kurz. Ich erfuhr, dass sie doch lebten. Es gäbe sie heute noch. Manche sagen, Schlangen zischen, weil sie Angst hätten, sie züngeln, um sich geruchsmäßig zu orientieren und gleichartige aufzuspüren, sie beißen nicht, sei denn als ultima ratio.

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