Jüdisch

"Sie werden verstehen, dass Sie Ihre Galerie in einem nichtjüdischen Land gründen. Das sollte schon in der Bezeichnung erkennbar sein. So zum Beispiel: christlich-jüdisch oder deutsch-israelisch". Mir wurde dunkel vor den Augen. Vor meinem inneren Auge sah ich kurz das Gesicht meiner Schwester im Sarg. Ich sagte: "Ich werde überhaupt nichts verstehen. Ich glaube, ich habe bereits genug verstanden." Ich habe noch etwas wohl hinzugefügt und den Ausdruck "Erschießung beider" oder "Erschießungen" gebraucht. Ich weiß es nicht genau. Ich weiß aber, dass ich etwas in die Richtung sagte. Als ich wieder den Raum sehen konnte, stand ich vor der Tür, saß nicht mehr auf dem Stuhl, die Leiterin des Kulturamtes vor mir. Sie hielt meinen Mantel in ihren Händen hoch.

Auf dem Platz vor dem Rathaus war mir, als sei ich nicht durch die Türe hinausgegangen, sondern aus dem Fenster geflogen. Vielleicht wurde ich hinausgeworfen? Ich erinnerte mich daran, dass ich wegen dreitausend Euro im Rathaus war, und mir wurde klar, dass mir die Aufgabe nun bevorstand, meiner Beraterin für Existenzgründung das Bericht darüber zu erstatten, wie wunderbar ich es geschafft habe, das Geld in voller Höhe jemand anderem zu überlassen. Meine Beraterin reagierte gelassen. Sie sagte, ich bräuchte das Rathaus nicht wirklich, sofern es Aussichten gebe, das Geld anderswoher zu bekommen. Die Aussichten, das Geld anderswoher zu bekommen, waren diffus. Die Gewissheit der Leiterin des Kulturamtes richtige Antwort erteilt zu haben - vollkommen. Keine von uns beiden, wohl weder meine Beraterin noch ich, hat damals in Betracht gezogen, dass es dem Rathaus genauso wie mir vielmehr ums Wort als ums Geld ging. Und, wie ich denke, keine von uns beiden hat im Geringsten geahnt, dass dem Rathaus gewisse Einsatzkräfte zur Verfügung standen, von denen ich ebenso nicht im Geringsten je hätte träumen können.

Im Frühjahr war es soweit. Der Name und das Eröffnungsdatum standen fest. Ein Mitarbeiter machte Vertretung für meine Beraterin zu einem Termin mit mir. Er sagte: "Frau Friedrich, nennen Sie Ihre Galerie nicht ausdrücklich "jüdisch". Sie werden Schwierigkeiten bekommen. In - der Name der Stadt wird hier nicht genannt, er ist allzu bekannt, und auch wegen einem eventuell sofortigen Schlag - will niemand das Jüdische haben". Es war nach einer Sitzung der Stadtverwaltung, an der er teilgenommen hatte. Ich bestand ein weiteres Mal darauf, die Galerie "jüdisch" zu nennen. Hinter mir war das Gesetz, die Geschichte.

Die Einladungen waren gedruckt. Alles schien glatt zu gehen, nichts mehr im Weg zu stehen, das lang ersehnte Ziel in greifbarer Nähe. Und dann kam, wie ein Blitz aus dem Nichts heraus oder ein Donner aus dem heiteren Himmel, etwas dazwischen. "Um jeden Preis das Eröffnungsdatum der Galerie einhalten. Sie wird es ändern wollen. Um jeden Preis…", eine Stimme oben links von mir sprach so. Ich wurde wach und sagte: "Was?!" Um acht Uhr. Es war, als ob ich nur deshalb noch einmal einschlief und davor nicht aufstehen konnte, um die Worte zu hören. In Wirklichkeit war es aber so, dass nicht meine Beraterin, sondern ich diejenige war, die für ein späteres Datum plädierte. "Es kann nicht sein, dass sie jetzt anders denkt", dachte ich. Ich hatte einen Termin bei ihr um elf Uhr. Sie begann das Gespräch damit, dass das Eröffnungsdatum der Galerie geändert werden muss. Ich habe am nächsten Tag erfahren, dass es weder Geld noch Räume gab.

"Klärt sich die Frage der Galerie bis heute Abend nicht auf, gehe ich heute Abend denselben Weg, den meine Schwester…". Ich sagte die Worte vielmals ins Telefon und schrieb sie per E-Mail. Die Eröffnung der Galerie fand wie geplant statt. Ich habe sie "jüdisch" genannt. Sie existierte zehn Monate lang. Siebeneinhalb Jahre später wurde die Bezeichnung "Galerie für jüdische Kunst" statt der Bezeichnung "Galerie" in meinen Gewerbeschein eingetragen. Auf die Eröffnung folgte eine Unmenge Straftaten Dritter elf Jahre lang. Zum Schluss stellte ich fest, dass diejenigen, die mich auf den Straßen der Stadt beleidigten, Polizisten selbst in Zivil waren. Ich teilte dies der Staatsanwaltschaft mit und wurde von heute auf morgen kein einziges Mal mehr beleidigt. Davor bis zu drei Mal am Tag. Die anderen Straftaten hörten nicht auf. Beleidigungen oder anstößige Worte wurden im Vorbeigehen in mein Ohr  gesprochen, oder ins Festnetztelefon, bis ich den Anrufbeantworter durchgehend an hatte. Zu klagen gegen Unbekannt brachte jedes Mal so viel, dass sich die Beleidigungen, anstößige Worte, eine Zeitlang vermehrten oder inhaltsreicher, intensiver wurden. Es verschlimmerte die Sache nur.

Hätte ich die Galerie nicht ausdrücklich "jüdisch" nennen sollen? Es war die Leiche, die im Rathaus schrie: Du sagst jetzt "Nein", sagte sie. Hätte ich der Änderung des Eröffnungsdatums zustimmen sollen? Der Traum entschied: Tue es nicht. Ich würde das Grab der beiden Erschossenen, das ich in einem nichtjüdischen Land nun geerbt habe, ebenso "jüdisch" nennen wollen. Denn wie sonst?

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